Ein Abend wie früher



Ich habe vor einer Woche angefangen, mir Gedanken zu machen. Ich habe mir Rezepte aus dem Internet abgeschrieben, sie ein wenig abgewandelt. Eigentlich will ich ein Rezept aus einem alten Kochbuch meiner Großmutter verwenden, aber die Rezepte sind zu kurz. Es sieht verdammt gut aus, dieses Buch, es ist zerfleddert und hat einen alten Einband. Wenn es dort so in der Küche steht und Philip und Karla das dort sehen, könnten sie fragen: „Wow, ist das alt, hast du das Rezept aus diesem Buch?“ Ich könnte Ja sagen, müsste aber dann darauf hoffen, dass sie nicht hineinschauen wollen, weil sonst würden sie wahrscheinlich sehen, dass das Rezept nicht ausführlich genug ist und ahnen, dass ich den Rest aus dem Internet habe. Wir alle sind viel im Internet, privat und beruflich, diese Abende sind unser Ausgleich, sie sind für mich wie eine Oase, keine Smartphones, kein Klingeln. Ich will nur, dass es schön wird. Ich will, dass es nur um uns geht, dass wir lachen, dass wir uns so richtig kennenlernen, obwohl wir uns schon so lange kennen. Es soll ein Abend mit Menschen sein, die einfach so sein können wie sie sind.
Gestern habe ich angefangen, das Fleisch einzukochen. Es wird so eine Art Reh-Gulasch mit ein paar besonderen Zutaten, die sie vielleicht herausschmecken und raten. Dann kann ich sagen: „Nah dran! Aber nicht ganz!“ Darauf freue ich mich. Der Rotwein wird auch dazu passen, ich habe in einem Forum gefragt, welcher Wein passen würde und ein Sommelier hat mir geantwortet. Sie werden sicher begeistert sein vom Wein. Ich habe auch eine schöne Karaffe bestellt für das Wasser, sie ist irgendwie geschwungen, hat aber harte Kanten an den Seiten. Ich vertraue darauf, dass sie ihnen gefallen wird. Vielleicht werden sie sie sogar bemerken, das wäre schön. Das Fleisch köchelt immer noch, es ist schon weich, aber ein bisschen lasse ich es noch auf dem Herd. Ich habe ein Kleid angezogen, dass schon etwas älter ist, aber sie kennen es noch nicht. Ich habe auch eine neues, aber das war erst vor kurzem auf den Plakaten zu sehen und vielleicht erkennen sie es wieder und wissen dann, wo ich es gekauft habe und dass es nur 24,99 EURO gekostet hat. Wir kennen uns schon so lange, wahrscheinlich würden sie lachen und sagen: „Schönes Kleid und auch günstig!“, aber ich will trotzdem nicht, dass sie es wieder erkennen. Das alte ist auch schön, es hat einen weißen Saum, sieht ein bisschen sportlich aus, aber sonst sehr schlicht. Wir machen das alles immer ein bisschen traditionell, mit Servietten und Kerzen, eigentlich so, wie unsere Eltern das gemacht haben. „Du tust immer so, als würde Leben und Tod davon abhängen“, hat Flo letztens gesagt. Aber es kommt eben nicht oft dazu, wir haben alle viel zu tun und wenn es mal passt, soll es schön werden.
Es klingelt und Flo macht auf. Philip und Klara lachen und begrüßen Flo, ich stehe noch in der Küche. Sie ziehen ihre Schuhe aus, schieben sie in die Ecke neben dem Schuhschrank, das höre ich und kommen in die Küche. Ich bin noch beschäftigt, muss noch kurz rühren. Dann wische ich mir die Hände an der Schürze ab und urarme sie beide. Sie riechen nach Alkohol und haben rote Wangen. Sie lachen wieder und setzen sich an den Tisch.
Können wir irgendwas helfen?“, sagt Philip und trinkt einen kräftigen Schluck aus dem Glas, das Flo im gerade eingeschenkt hat. Dann guckt er Karla an, während er das Glas noch am Mund hat und sie lacht.
Ihr habt doch schon vorgeglüht.“, sagt Flo und stößt mit beiden an. Sie lachen sich an.
Uns ist heute etwas absurdes passiert, das glaubt uns kein Mensch.“
Ich freue mich, dass das Gespräch so schnell in Fahrt kommt. Das ist wichtig, nichts ist schlimmer als wenn einem die Gesprächsthemen ausgehen.
Wir fahren mit unseren Fahrrädern die Skalitzer Straße runter und da übersieht uns ein Transporter und fährt auf den Fahrradweg. Ich bin hinter Karla und kann noch bremsen. Karla ist aber genau zwischen ihm und den parkenden Autos und dann kommt genau in dem Moment ein anderes Auto aus einer Einfahrt gefahren und rammt den Transporter an der Beifahrertür. Es hat unheimlich laut geknallt. Und dann stand sie da zwischen zwei total ramponierten Autos, hat sich zu mir umgedreht und ich musste einfach lachen, weil es war, als hätte ihr Schutzengel am Steuer gesessen und sie gerettet. Er hat tatsächlich diesen Transporter daran gehindert, noch weiter rüberzufahren und Karla zwischen den Autos einzuklemmen.“
Ich war ganz schön zittrig“, sagt Karla, „aber es war irgendwie auch cool.“
Beide lachen und trinken noch einen großen Schluck.
Es war so cool“, sagt Philip, „dass wir darauf trinken mussten. Und dann sind wir in so einem runtergekommenen italienischen Eckladen versackt, haben bestimmt zwanzig kleine Bier und Malteser getrunken.“
Ein bisschen hat es sich angefühlt, als wäre es der erste Tag eines neuen Lebens.“, sagt Klara.
Ihr habt auch jedes Mal eine neue Geschichte“, sage ich und trage die Auflaufform rüber zum Tisch. Beide lachen sich wieder an, als hätten sie noch mehr, die sie uns aber nicht verraten möchten.
Naja, das war auf jeden Fall unser Tag. Jeder Tag ein neues Abenteuer. Wie sieht‘s bei euch aus?“ fragt Philip.
Ich habe mir ein paar Dinge überlegt, die ich sagen will. Aber ich warte ab, was Flo macht, ich will nicht alles auf einmal erzählen.
Nicht viel“, sagt er, „eigentlich alles wie immer. Wir haben eine neue Mitarbeiterin. Die ist ganz nett, aber lernt langsam.“
Karla stößt gegen ihr Glas und der Wein fliegt hoch, sie kann es aber gerade noch halten und fängt den Wein wieder mit dem Glas ein. Philip schaut sie mit großen Augen an und fängt an zu jubeln. Und dann macht Karla so eine coole Geste mit den Hände, kneift die Augen zusammen und zieht die Lippen hoch, als wäre alles geplant gewesen. Dann lachen die beiden und Philip küsst Karla auf die Wange.
Wir haben meinen Bruder besucht“, sage ich, „er ist doch Koch in dieser Villa in Mecklenburg. Und dort waren wir fischen. Flo hat sogar einen Hecht gefangen, wollt ihr ein Foto sehen?“
Klar!“, sagt Philip.
Ich hole mein Handy raus und zeige ein Foto von einem Hecht.
Der war vierzig Zentimeter lang. Eigentlich darf man sie erst ab fünfundvierzig Zentimetern töten, aber mein Bruder hat uns das so schmackhaft gemacht, weil er ihn mit frischen Kräutern und Zitronen im Ofen garen wollte.“
Und hat er geschmeckt?“, fragt Karla.
Ja! Sehr gut!“
Philip schaut rüber zu Karla und wiederholt mit chinesischem Akzent, was sie gesagt hat.
Un hatte esmekt?“
Beide lachen und sie sagt: „So hab ich das gar nicht gesagt.“
Ich weiß“, sagt Philip, „aber es ist witzig.“
Flo geht schon wieder aus dem Raum zu seiner Jacke im Flur. Durch den Türspalt sehe ich, wie er sein Handy benutzt. Ich will nicht, dass er sein Handy benutzt. Das soll ein schöner Abend werden, ein Abend wie früher.

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