Alles gut
Sie
wohnen in einer kleinen Dachgeschosswohnung. Er schiebt sein Fahrrad
in den Innenhof, schließt es an und geht in den dreckigen Hausflur.
Die Farbe blättert von den Wänden und überall sind diese braunen
Flecken. Das Geländer ist morsch und das Linoleum hebt sich von den
Stufen ab. Er schließt die Tür auf und sieht gleich die kleine Vase
mit frischen Blumen, die sie jeden Montag auf dem Markt kauft. Sie
sind diesmal lila. Es ist schon nach zwei Uhr nachts, aber im
Badezimmer brennt noch Licht. Er denkt, sie könnte es vergessen
haben und will es ausmachen, als er sie auf dem Klodeckel sitzen
sieht.
„Du
bist noch wach?“, sagt er.
„Ich
bin auf der Couch eingeschlafen“, antwortet sie mit winzigen Augen
und der Zahnbürste im Mund.
„Ich
bin immer so müde“, sagt sie.
„Ich
bin hellwach.“
„Weil
du immer so spät arbeitest.“
„Heute
hat einer der Gäste einen Anfall gehabt.“
Sie
spuckt aus, spült die Zahnbürste ab und schiebt ihn weg vom
Waschbecken, um sich das Gesicht zu waschen.
„Was
meinst du mit Anfall? Ist wieder einer laut geworden?“
„Sozusagen
ja. Ich stand hinter der Bar und habe gerade Gläser poliert und
plötzlich höre ich so ein zombieartiges Geschrei, wie von einem
Untoten. Ich gehe rüber zur anderen Seite der Bar und sehe, wie ein
Mann seine Arme so vor seiner Brust verrenkt und seinen Rücken in
die Ecke hinter ihm drückt. Seine Mundwinkel sind total verzogen und
seine Augen ganz weiß. Die Frau, die ihm gegenüber sitzt, steht
auf, aber nicht schnell, sondern irgendwie ruhig, geht zu ihm hin und
hält seinen Kopf ganz fest. Sie drückt ihn richtig an ihre Brust
und streichelt seine Wangen. Dann fangen seine Beine an zu zappeln
und er tritt gegen den Tisch, die Gläser fallen auf den Boden, die
Oliven rollen durch den Gastraum. Und andere Gäste kommen hin, um
irgendetwas zu machen, stehen aber nur ratlos da und ich bin auch
schnell um die Bar herumgerannt, um ihnen irgendwas zu bringen,
Wasser oder so, aber als ich dann da war, sah ich nur die Frau, wie
sie ihn immer noch festhält, mit geschlossenen Augen und seine
Wangen streichelt. Ich frage, ob sie irgendetwas brauchen, aber sie
schüttelt nur den Kopf und sagt: Alles gut. Alles gut. Er stöhnt
noch ein paar Mal und zuckt noch kurz. Und dann wird er ganz schwach
und sie hebt langsam seine Arme auf den Tisch und legt seinen Kopf
darauf. Und so hat er dann noch ein paar Minuten dagelegen und
langsam aus- und eingeatmet. Sie saß ihm still gegenüber, die
Gläser waren immer noch auf dem Boden. Ich bin dann hin und habe die
Gläser aufgesammelt und die Oliven und habe noch einmal gefragt,
aber sie hat nur gesagt, sie hätte gerne noch ein Glas Merlot und
dann auch bald bei Gelegenheit die Rechnung. Ich hab ihr das Glas
Merlot gebracht und konnte einfach nicht aufhören sie zu beobachten.
Sie kippte die Hälfte von dem Glas in seins, das das einzige war,
das noch auf dem Tisch stand und wartete, ganz ruhig. Und als er dann
wieder zu Kräften kam und den Kopf gehoben hat, schob sie ihm das
halbvolle Glas zu ihm und lächelte. Irgendwann habe ich ihnen die
Rechnung gebracht, sie haben bezahlt, den letzten Schluck
ausgetrunken und sind gegangen. Sie haben sich nicht wirklich
verabschiedet, er redete kaum noch. Sie hat aber kurz „tschüss“
gesagt.“
Sie
trocknet sich ihr Gesicht mit dem Handtuch ab, ihre Wangen sind ganz
rot. Sie schaut mich an. „Das war bestimmt ein epileptischer
Anfall.“
„Kann
schon sein, ja. Aber stell dir vor sie wäre nicht dabei gewesen, ich
hätte gar nicht gewusst, was zu tun wäre. Ich hätte wahrscheinlich
einen Notarzt gerufen oder so. Ich meine, wir hatten wirklich viele
Gäste da, aber keiner wusste, was zu tun war. Und sie hielt einfach
seinen Kopf fest.“
„Ich
glaube das macht man so, wenn jemand einen epileptischen Anfall hat.“
„Bestimmt,
aber das muss man erst einmal wissen.“
„Sie
sind bestimmt schon lange zusammen und das war sicher nicht sein
erster Anfall.“
„Ja,
sie wusste genau was zu tun ist. Sie hat ihn einfach an ihre Brust
gepresst. Und dann hat sie gewartet, ganz ruhig, vor ihm, bis er
wieder normal war. Ich glaube übrigens, dass das das Schlimmste für
ihn war, das hat man danach in seinen Augen gesehen. Dass alle
geguckt haben, weil er nicht normal war und alle Angst hatten und
einen Notarzt rufen wollten.“
Sie
zieht sich ein paar Wollsocken an und er legt seine Jacke auf die
Couch. Er schaut kurz aus dem Fenster.
„Das
ist ja auch wirklich schlimm sowas, wenn dich alle angucken. Aber
damit muss man irgendwie leben, wenn man diese Krankheit hat.
Irgendwie ist es ja dann wie eine eigene Normalität.“
Er
dreht sich wieder zu ihr hin.
„Für
ihn war das bestimmt Alltag, aber für sie auch. Das hat man ihr
angesehen. Und sie hat das ganz routiniert gemacht und ich glaube,
dass mit dem Kopf hat sie auch gemacht, um sein Gesicht ein wenig zu
verstecken, weil sie genau wusste, wie schwierig das für ihn ist.
Vielleicht hat er ihr mal gesagt: Das
schlimmste ist nicht der Anfall selbst, sondern die Blicke der
Menschen danach,
oder sowas. Das könnte ich mir gut vorstellen. Ich
wollte ihm gerne das Gefühl geben, dass das ok ist, dass er dafür
nichts kann, aber das war eigentlich unmöglich, weil er das ja eh
weiß und auch wenn ich es sagen würde, wäre das eine Form der
Aufmerksamkeit und genau das will er ja nicht.“
Sie
legt sich unter die Bettdecke und lächelt mich an.
„Du
hast bestimmt alles richtig gemacht. Außerdem war sie ja bei ihm.“
„Ja,
sie war bei ihm. Die ganze Zeit. Und wusste genau was zu tun ist. Sie
hat ihm den Kopf gehalten. Und sie hat ihn an ihre Brust gedrückt,
ganz fest.“
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