Tagesform

Ich bin kein abergläubischer Mensch. Die meisten sogenannten Wahrheiten glaube ich nicht. Die beste Art, mit dem Leben umzugehen, ist, alles zu nehmen wie es kommt, hat meine Mutter immer gesagt. Denk nicht groß nach, sagte sie, mach was draus. Ich schlafe abends ein und bin einsam. Ich stehe morgens auf und bin einsam. Einsamkeit ist eine Konstante, wenn man so will, die einzige Konstante in meinem Leben. „Sei nicht immer so grüblerisch“ hat Marie gesagt, als sie ausgezogen ist. „Ich bin nicht grüblerisch“, habe ich geantwortet. „Weißt du“, habe ich dann gesagt, „wenn du in mein Alter kommst, haben sich viele Dinge verändert und was du für selbstverständlich gehalten hast, ist dann irgendwie anders. Bis man dahinter kommt, was eigentlich anders ist, ist alles schon zu spät.“
Sie hat mich nur angelächelt, weil sie schon immer stärker war als ich, ich weiß nicht, wie solch ein Mensch aus meinem Bauch kriechen konnte. Sie hat sich mit Freunden auf dem Balkon getroffen, hat abends mit ihnen drei Flaschen von meinem Rotwein getrunken und einer der Freunde hat gesagt: „Was ist eigentlich mit deiner Mutter los?“, das habe ich gehört. Und Marie hat gesagt: „Was soll mit ihr los sein? Du weißt überhaupt nichts.“ Er ist kurz danach gegangen und ich weiß, dass Marie ihn eigentlich ganz süß fand, das hat sie mir vorher erzählt. Sie ist ein wunderbarer Mensch. Nur wenige Wochen später hat sie mir gesagt, dass sie mit ihrer Freundin zusammenziehen will, das Gespräch verlief wie eine Beichte. Es tat ihr Leid, sie versuchte mir ihre Entscheidung verständlich zu machen, aber ich habe gleich gesagt, dass das vollkommen in Ordnung sei, sie sei alt genug. Und dann war da diese dunkle Wohnung, ihre bösartigen Möbel, die das Licht verschlangen, überall standen leere Gläser und ich konnte mich nicht erinnern, aus ihnen getrunken zu haben. Überall waren Flecken, dreckige Wäsche, ich lebte irgendwie dazwischen, zwischen den Dingen. Ich ging nicht mehr aus dem Haus, ich legte die Bratpfanne in die eine und den Teller in die andere Ecke, es lief alles vollkommen aus dem Ruder, würde ich sagen, aber ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte. Marie rief mich an und ich sagte: „Alles in Ordnung, mir geht es sehr gut. Ich habe angefangen zu malen.“ Lügen, alles Lügen. Dieses Buch aus dem Hausflur, das dort auf dem Briefkasten lag wie Altpapier, hätte ich niemals angefasst – ja nicht einmal angeguckt -, wenn ich mich nicht in dieser Ausgangssituation befunden hätte, deshalb schreibe ich das überhaupt. Die erste Seite hat gesagt: „Wir alle sind zur gleichen Zeit im Dies- und Jenseits, der Schlaf ist die Zeit, in der wir dem Jenseits am nächsten sind. Wenn du eine Frage hast, stelle sie abends und erwarte am Morgen die Antwort.“ Ich habe nicht weitergelesen, ich habe das Buch in die Mülltonne geworfen, weil ich an sowas nicht glaube. Aber irgendwie ist mir dieser Teil in Erinnerung geblieben, ich habe nicht einmal besonders konzentriert gelesen. Seltsamerweise wurde es nach diesem Moment mit dem Buch am schlimmsten. Dunkle, wirklich dunkle Zeiten. Totaler Kontrollverlust. Was kann noch kommen, soll ich sterben?, habe ich mich sagen hören, als hätte es jemand anderes gesagt. Meine Laken waren voll mit Urin und Erbrochenem. Ich habe eine Ewigkeit geschlafen, ich weiß nicht wie lange. Vielleicht vierzehn oder fünfzehn Stunden, es gibt Tabletten, die lassen einen die Zeit vergessen. Und als ich aufgewacht bin, habe ich nichts weiter gedacht als Nein“. Es war nichts Neues für mich, mit einem Nein aufzuwachen, mein gesamtes Leben bestand aus einem Nein, die Verneinung von allem war für mich eine Routine. Aber dieses Nein war anders, es hatte einen Bezug zu etwas, aus klaren feinen Linien. Ich habe nie wieder so deutlich ein Nein in meinen Gedanken gesehen. War es eine Antwort? Sei nicht albern, habe ich mir gesagt. Aber ich musste mir selbst eingestehen, dass der Tag ein winziges bisschen einfacher war, es war irgendwie etwas passiert, eine Bewegung oder vielleicht ein – vor diesem Wort hatte ich große Ehrfurcht – Fortschritt. Am Abend habe ich wieder getrunken und Tabletten genommen und bin neben meinem Bett auf dem Boden eingeschlafen. Am Morgen habe ich an nichts gedacht, nur an die gleichen Monster, die dort wohnen, wo ich denke. Und da war ein seltsames Gefühl, so etwas wie Reue, würde ich sagen, weil ich den Abend verschwendet habe, ohne eine Frage zu stellen. Ich arbeitete mich mit Fernsehen und Alkohol bis zum Abend vor, wühlte mich durch den Alltag wie durch eine schlackige Jauchegrube. Und am Abend, nach vielleicht vier oder fünf Flaschen Wein, habe ich mir eine andere Frage gestellt. „Was passiert mit mir?“ In der Nacht habe ich mir meinen Arm aufgeschnitten, nicht absichtlich, ich muss irgendwo gegengestoßen sein, aber als ich am Morgen aufgewacht bin, habe ich Blut auf den Laken gesehen und dachte es sei vorbei. Martyrium habe ich dann gedacht, ein Wort, dass ich noch nie in meinem Leben gesagt habe, glaube ich. Aber es war wirklich da, in meinen Gedanken, wie ein seltener Vogel oder eine ungewöhnliche Wolkenformation. Wie ist es in diese Welt gekommen?, dachte ich. Ich legte die Laken in den Mülleimer und verband mir meinen Arm. Die Schnittwunde war nicht tief. Ich dachte an Maria und daran, dass sie mich unverhofft besuchen könnte. Ich schämte mich. „Was machst du denn für Sachen?“, hätte sie zur mir gesagt. Der Tag ging vorüber und er war nicht schlecht, ich habe sogar ein wenig aufgeräumt und geputzt – keine großen Sprünge machen, man kann nur tiefer fallen, dachte ich irgendwie die ganze Zeit. Und am Abend hatte ich zum ersten mal das Gefühl, dass da etwas wartet, wie ein Freund oder ein Ritual, irgendetwas, das etwas verändern kann. Also habe ich mich gefragt: „Was soll das heißen, Martyrium?“
Nachdem ich die letzte Silbe gesprochen hatte, habe ich mich zum ersten mal seit meiner Kindheit auf das Schlafen gefreut, wie wenn am nächsten Morgen ein Geschenk auf mich warten würde. Ich habe trotzdem noch getrunken, aber ich habe mich gefreut. Als ich meine Augen wieder aufmachte, sah ich eine weiße Gestalt vor mir, die strahlte, als würde sie eine Sonne hinter sich verdecken. Mein ganzes Zimmer war hell erleuchtet, ich weiß nicht, ich glaube es selbst nicht. Sie kam zu mir herunter, auf mein Bett und sagte: „Du bist ich und ich bin du.“ Dann verschwand sie und mir war so wohl zu Mute, so mollig warm war mein Leben, ich wünschte sie mir wieder vor meine Augen, wollte sie küssen und für immer bei mir haben. Den ganzen Tag über habe ich nach ihr gesucht, habe mich wieder in mein Bett gelegt, in genau derselben Position und mit der Kraft meiner Gedanken oder so, ich habe das Buch ja nie gelesen, habe ich versucht, sie wieder zu mir zu holen. Ich habe sogar im Müll nach dem Buch gesucht, aber es war nicht mehr dort. Sie kam nie wieder, diese Gestalt, ich weiß nicht wieso. Der Satz ist noch in meinem Kopf, er wiederholt sich wie ein Echo, als würde eine unsichtbare Stimme an den Wänden meines Gehirns immer wieder zurückschallen. Aber was soll das heißen, denke ich dann immer, was soll das heißen? Du bist ich und ich bin du. Wenn ich doch nichts bin, rein gar nichts, eine große Enttäuschung, dann bist du auch nichts, nicht mehr und nicht weniger und wir beide sind nichts, warum antwortest du nicht?

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