Bleib bei mir

Home Cooking Day!“, hat Becca gesagt, als wir nicht mehr wie jeden Sonntag in die Pizzeria um die Ecke gehen konnten. Wir schälten Kartoffeln, von denen ich gar nicht wusste, dass wir sie noch im Schrank hatten und aßen Quark mit Leinöl dazu, sogar mit frischen Kräutern von unserem Balkon. „Wenigstens haben wir genug Wein“, sagte sie, „und Zitronen haben wir auch ne Menge, gegen Skorbut.“, dabei rüttelte sie an ihrem Schneidezahn, um zu sehen, ob er schon lose ist, „… und natürlich für Cocktails.“
Sie hielt mir das leere Glas hin. „Ich verstehe nicht“, sagte sie, „wieso alle Klopapier kaufen, das ist doch nun wirklich das geringste Problem. Ich könnte mir für den Rest meines Lebens mit der Hand den Arsch abwischen.“
Auch wenn wir kein Wasser mehr hätten?“
Klar, dann würde ich warten, bis es regnet und mir die Hand in der Regenrinne waschen. Außerdem würde ich die linke zum Arschabwischen nehmen und mit der rechten essen, dann kann nichts schiefgehen.“ Sie roch an ihrer Hand als müsste sie prüfen, ob sie sauber ist. „Mit deinem Pessimismus kommst du auf jeden Fall nicht weit. Und du solltest mal deinen Grips nen bisschen anstrengen, man muss erfinderisch sein in solchen Zeiten.“
Ich mixte uns noch zwei Pisco Sours und steckte mir eine Zigarette an.
Ich meine“, sagte sie, „wir sollten eigentlich feiern. Wir sollten alle einladen, die wir kennen und das Motto ist Partyhüte statt Atemmasken!“
Und wie sollen die zu uns kommen?“
Sie grub Zeigefinger und Daumen in die Wangen und ihre großen braunen Augen mutierten zu winzigen Schlitzen. „Hmmm... da wird mir schon etwas einfallen.“
Dann griff sie nach den Zigaretten, nahm zwei heraus und legte sie vor sich auf den Tisch.
Wir müssen rationieren.“, sagte sie, „Diese beiden Zigaretten rauche ich in den nächsten zehn Minuten. Erst dann nehme ich mir mehr.“
Sie grinste mich an. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch mit einer Verrückten in dieser winzigen Wohnung eingesperrt sein kann.“, sagte ich.
Dir bleibt wohl nichts anderes übrig.“, sagte sie und pustete Rauch in meine Richtung.
Vielleicht fällt mir ja noch eine Lösung ein.“, sagte ich.
Mord?“, sie riss die Augen auf, „Es wäre wirklich ein ausgezeichneter Zeitpunkt für einen Mord, wahrscheinlich der beste. Ich meine, bis überhaupt jemand davon erfährt, ist die Welt vielleicht schon untergegangen.“
Sie rührte mit dem Finger in ihrem Pisco Sour herum und ließ das Eis darin klimpern.
Außerdem, wenn die eines nicht gebrauchen können, dann noch eine Leiche. Am besten du lässt mich einfach in der Badewanne liegen, ich würde es dir nicht übel nehmen. Es gab doch da mal diesen einen Fall von dem Mann, der seine Frau getötet hat und es dann angeblich vergessen hat. Also er hat sie irgendwie in das Badezimmer gelegt und es dann einfach vergessen, war das nicht so?“
Zumindest hat er das behauptet, ja.“
Hast du nicht sogar darüber geschrieben? Na gut, also wie auch immer, wir werden schon zurechtkommen.“
Ganz bestimmt.“
Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer zu ihrem Macbook. „Immer noch kein Internet“, rief sie, „wahrscheinlich kann ich mir das mit dem Job eh erst einmal abschminken.“
Sie kam zurück in die Küche und ihr Glas war schon wieder leer.
Unsere Großeltern würden jetzt sagen: Jetzt seht ihr mal wie das früher war, ihr jungen Leute könnt euch gar nicht mehr beschäftigen! Aber da liegen sie falsch, wir trinken mindestens genauso viel wie unsere Großväter und haben sogar noch intelligentere Gespräche, nicht so ein Stammtischgemecker, sondern wirklich tiefgründiges Zeug.“, sagte sie und warf sich wieder in den Stuhl. Ich öffnete ein Glas saure Gurken und fischte mit den Fingern darin herum.
Ich will eine kleine“, rief sie und schlug meine Hände vom Glas weg, „die sind knackiger.“
Ich stellte das Glas auf den Tisch und ließ sie machen.
Die schmecken besser als sonst, oder? Wenn man von allem zu viel hat, merkt man gar nicht, das alles scheiße schmeckt, wenn man aber keine Wahl mehr hat…“, sie zwinkerte und steckte sich eine Gurke ganz in den Mund.
Ich sagte nichts.
Gar nichts zu tun ist nicht leicht“, sagte sie mit vollem Mund, richtete sich auf und hob den Zeigefinger, „man muss auch wirklich davon überzeugt sein, in diesem Moment nichts tun zu müssen. Aber wie soll das gehen, wenn man doch immer etwas tun könnte?“
Bei dem könnte flog ihr Finger in meine Richtung und schlug mir fast ins Gesicht.
Jetzt können wir wirklich nichts tun.“, sagte ich.
Oder alles?“
Sie kletterte über den Tisch zu mir herüber und setzte sich auf meinen Schoß.
Wenn man eines in solch einer Situation auf Vorrat kaufen sollte, dann sind das Kondome.“
Ich lachte, aber sie blieb ganz ernst.
Warum lachst du? Also mit der Hand kann ich jedenfalls nicht verhüten und auch nicht mit Zeitungspapier oder Stofffetzen, du etwa? Und sollte man keinen Spaß haben? Gerade jetzt? Ich meine, wann denn sonst? Und nicht verhüten ist auch keine Option, eine Schwangerschaft wäre das Dümmste überhaupt in dieser Zeit.“
Sie rutschte von mir herunter und sprang auf die Küchenablage. Ihre schokoladenbraunen Haare fielen ihr ins Gesicht.
Wir können uns richtig gehen lassen!“, rief sie, „Haben wir nicht noch was in der Schatulle?“
In welcher Schatulle?“
Na in der Schatulle.“
Sie ging ins Wohnzimmer an den großen Schrank, den ihre Eltern uns zur gemeinsamen Wohnung geschenkt hatten und kramte eine kleine Kiste hervor.
Das Wort Schatulle ist irgendwie so schön altmodisch, findest du nicht? Dabei sieht sie gar nicht wirklich alt aus, das Holz ist noch nicht grau oder so… aber ihr Inhalt, der ist altmodisch. Oh ja. Mach mal Musik an!“
Ich kramte in einer kleinen Box neben der Stereoanlage nach alten CDs, aber fand nichts, was zur Stimmung gepasst hätte. Dann schaute ich meine Schallplatten durch, ich hatte sie schon seit Jahren nicht mehr angefasst, sie sind irgendwie ein zweites Mal überflüssig geworden.
The Cure?“
Dein Ernst?“
Stones?“
Lass mich mal.“
Ich ging in die Küche und zündete mir noch eine Zigarette an. Es krachte, als sie die Nadel auf die Platte fallen ließ.
Brothers Johnson? Du bist verrückt.“, rief ich ins Wohnzimmer.
Mir doch egal was du denkst.“
Sie kam zurück in die Küche und nahm mir die Zigarette aus dem Mund. Der Boden bebte und die Blumentöpfe im Regal schepperten. Sie nahm einen kleinen Löffel aus der Kiste und zog alles mit einem mal in ihre Nase. Ich versuchte, sie mit einem Blick dazu zu bewegen, leiser zu machen.
Wer soll denn kommen? Es verlässt doch eh niemand seine Wohnung. Und außerdem, wollen sie schlafen oder was? Schlafen können sie, wenn sie tot sind.“
Sie stand noch da, starrte auf den Rauch ihrer Zigarette und wippte mit den Beinen, bis die Platte zu Ende war. Die Zigarette war bis zum Stummel runtergebrannt. Plötzlich fasste sie den Saum ihrer Bluse und streifte sie über ihren Kopf, sie hatte nichts darunter. Ihre Hose fiel fast ohne ihr Zutun die gebräunten Beine herab. Der Tonarm rastete klackend ein. Sie stand auf, legte die B-Seite auf und kam wieder zurück. Bevor das Lied überhaupt losging, fing sie an zu tanzen. Ihre Haare wirbelten umher und ihre Füße stampften auf den Boden. Sie trommelte mit den Händen auf den Tisch und dann auf ihre Oberschenkel und drehte sich im Kreis, während ihre Beine und Arme in alle Richtungen flogen. Plötzlich stoppte sie abrupt und wiegte ihre leeren Arme im Wind, als würde sie ein Kind halten und dann warf sie es in die Luft, schrie und raufte sich die Haare. Manchmal war es ein Walzer, manchmal irgendetwas wie Cha-Cha-Cha. Keine ihrer Bewegungen hatte etwas mit der Musik zu tun, es war eigentlich kein Tanz, zumindest war er nicht harmonisch oder im Takt. Sie riss Gläser und Lampen um und auch die Schatulle fiel in einer weißen Wolke zu Boden. Als die Musik vorbei war, rauschte es noch einige Sekunden und der Tonarm rastete ein zweites Mal ein. Sie wischte sich etwas glitzernden Schweiß von ihrem nackten Brustbein. Ich wollte aufstehen und zu ihr gehen, aber sie sagte „Nein, bleib sitzen.“
Sie schaute mir tief in die Augen, bis ihre Wangen rot wurden und ihre Lippen anfingen zu zittern.
Was ist denn?“, sagte ich.
Ich weiß nicht, irgendwie ist es einfach schön. Ich hätte mir den letzten Tag auf dieser Scheißerde niemals so schön vorgestellt.“
Es wird nicht der letzte Tag sein.“, sagte ich mit dünner Stimme.
Sie lächelte und ihre braunen Augen funkelten.
Ich wünschte es wäre so.“
Dann ging sie ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett, so wie sie war und ich fegte noch die Scherben in der Küche zusammen, leerte die Aschenbecher und stellte die kleinen ungleichmäßig runden Teller auf den Tisch, für das Frühstück am nächsten Morgen.

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