All die Mühen
Der
Flug von Berlin nach Hanoi dauert schon zwölf Stunden. Ich bin seit
über sechzehn Stunden auf den Beinen. Als ich in Hanoi ankomme,
sieht es aus wie auf Kuba, zumindest stelle ich mir Kuba so vor.
Blasser Teppich auf dem Boden, camouflagefarbene Vorhänge vor den
Fenstern und Bilder von Revolutionsführern an den Wänden. Ich finde
den einzigen Geldautomaten und hebe mit meiner American Express erst
einmal hundert Dong ab. Am Schalter der Zollbehörde reicht dieser
Betrag nicht aus, aus Gründen die ich nicht ganz verstehe und ich
zahle noch einen Teil mit Euro. Dann habe ich ein Visum, gehe vor die
Tür des Flughafens, atme die Luft ein, die meine Lungen füllt wie
Kaugummi, und fahre zum Hotel. Es dauert fast eine Stunde und ich
glaube auch hier, dass ich mehr zahlen werde als erwartet. Der
Taxifahrer ist ein alter Mann mit Levis-Jeans-Mütze, der ständig
aus dem Fenster zeigt, etwas auf vietnamesisch sagt und dann „good?,
good?“ fragt. Ich antworte nicht, sondern überdenke noch einmal,
was ich heute Abend alles sagen will. Ich solle ihm Raum
geben,
hat Petra, meine jetzige Lebensgefährtin gesagt und Zeit
zum Antworten.
Immerhin hat sie zwei nette Söhne, beide verheiratet, der eine fährt
einen BMW X5 und ist Leiter eines Autohauses, der andere arbeitet in
einer Kanzlei. Er hat zwar kein Auto, aber gute Gründe dafür. In
der Stadt sei das überflüssig, sagt er.
Ich
steige aus dem alten Toyota Corolla aus, die Tür kracht ins Schloss.
Ich zahle und stehe vor einer strahlend weißen Fassade im
Kolonialstil. Darin sind kleine schwarze Fensterläden und aus dem
Erdgeschoss strahlt mir in gold die Lobby entgegen. Ich fühle mich
gleich erleichtert. Ich spiele beim Vorbeigehen mit einer der kleinen
Hängelaternen und grüße den Pagen. Es ist nicht das größte
Sofitel, in dem ich bisher war, aber es ist auch ganz schön. Der
Rezeptionist ist freundlich und schickt mein Gepäck schon vor. Ich
will mich noch am gleichen Nachmittag auf den Weg machen und bestelle
schon mal ein Taxi zu sechzehn Uhr. Dann gehe ich auf mein Zimmer und
nehme eine Dusche, wunderbar präzise wie man die einstellen kann,
ich dusche viel länger als nötig. Ich liebe Tropenduschköpfe. Ich
schlafe noch drei Stunden in dem Bett, weil es so gemütlich aussieht
mit den sechs Kissen, nur für mich. Damals, als mir der erste große
Abschluss geglückt ist, habe ich für meine damalige Frau und mich
in Berlin, in der Stadt in der wir lebten, ein Fünf-Sterne-Hotel
gebucht. „Wir wohnen doch hier.“, hat sie gesagt und mich
ungläubig angeguckt. Und nachdem wir eincheckten hatten, haben wir
geweint. Vor allem hat sie geweint, aber ich auch, obwohl ich
versucht habe es zu verbergen. Sie saß in einem Schneidersitz auf
dem eierschalefarbenen Bett, hatte sich den Bademantel übergeworfen
und strahlte mich mit ihren nussbraunen Augen an. „Hiernach kann
ich nie wieder campen“, hat sie gesagt und ich hab geantwortet:
„Hiernach müssen wir nie wieder campen.“ Dann haben wir
zusammen gebadet, im Whirlpool der Suite und ich hatte das erste Mal
das Gefühl, dort in dieser marmorverzierten Badewanne mit goldenen
Armaturen, dass sich all die Abstriche, die wir gemacht hatten, all
die Zeit, die ich nicht da war, dass sich all die Mühen gelohnt
haben.
„Weißt
du noch“, sagte sie, während sie ein Häufchen Schaum auf dem
großen Zeh aus der Wanne hob, „als wir in diesem Hotel in
Malcesine waren, am Gardasee, wo sie uns die letzten zwanzig Mark
abgeknöpft haben für das Zimmer und dann hat es da drin so
widerlich gestunken?“
Sie
lachte und strich über die weiße Keramik.
„Das
Wasser war braun, als es aus dem Hahn kam“, antwortete ich und war
so stolz auf uns, auf mich, dass wir dort waren. Wir lachten so viel.
Ich
streife mir meine schwarzen Shorts über, dazu das beige Polohemd.
Ich habe nicht viel dabei, ich bleibe nicht lange. Das Taxi steht
pünktlich vor der Tür, ich gebe dem Taxifahrer einen kleinen Zettel
mit einer Adresse. Wir fahren durch enge, wuselige Straßen,
vielleicht ein Markt, das kann man nicht genau sagen. Wir müssen
langsam fahren und immer wenn es unter den Rädern knackt, schaue ich
aus dem Fenster, um mich zu vergewissern, dass wir kein Huhn
totgefahren haben. Ich checke kurz meine Mails, die letzte Adresse,
die mir Emilia geschickt hat, scheint noch aktuell zu sein. Wir
fahren raus aus der Stadt, durch die Reisfelder. Dann sind wir da und
ich steige aus. Der Taxifahrer gibt mir seine Telefonnummer, ich
könne ihm schreiben, wenn er mich abholen soll. Und dann stehe ich
vor dem seltsamsten Ort, den ich je gesehen habe. Zwischen Containern
hängen Tücher und Plastikplanen, dazwischen stehen selbstgebaute
Wigwams oder Jurten, oder wie diese Zelte heißen. Es gibt eine
Feuerstelle in der Mitte, bemalte Baumstämme und mehrere bestellte
Felder dahinter. Es sieht verlassen aus, aber irgendwie liebevoll
arrangiert. Auf einer Holztreppe, die hinab zu einem Fluss führt,
sehe ich ein Mädchen sitzen. Es ist etwa fünfundzwanzig, hat dicke
blonde Locken und mit Blumen und Kreisen bemalte Arme. Sie ist auf
jeden Fall nicht einheimisch, denke ich. Ich gehe zu ihr hin und sehe
zwischen Sommersprossen einige kleine Leberflecken, die ihr Gesicht
aus einem bestimmten Winkel eckig wirken lassen. Sie lehnt sich an
die Stufe und schaut mich an.
„Hallo,
ich suche nach meinem Sohn Raphael.“
Sie
lächelt und zeigt runter zum Fluss. „He‘s down there fishing.“
Die
Sonne steht schon tief und der Fluss flimmert wie die letzte Glut im
Feuer. Ich steige die Treppe hinab bis zum Ufer. Auf einem Stein,
mitten im Fluss steht ein Mann mit langem braunen Haar und freiem
Oberkörper. Er ist dünn, aber kräftig. Er wirft die Angelrute
hinter sich, wirbelt sie mehrmals über seinem Kopf umher, wie feine
Spinnweben schießt die Leine über die Wasseroberfläche. Dann
landet sie geräuschlos etwa dreißig Meter vor ihm im Wasser. Er
setzt sich hin, steckt die Rute in einen Felsspalt und wartet. Und
als er sich hinhockt, so wie früher über die riesige Kröte, die
wir im Tegeler Forst gefangen haben und als er mit dem Finger die
Furchen im Stein nachzeichnet, so wie damals die Maserung des Holzes
auf seinem Hochbett, während er leise weinte, weil ich keine Zeit
hatte, ihm eine Geschichte zu erzählen, als ich das alles sehe, da
weiß ich, das mein Sohn dort auf dem Felsen steht. Was soll ich ihm
sagen? Dass sein Vater hier runtergeflogen ist, um ihn zur Vernunft
zu bringen? Dass er ihm Vernunft schuldig ist, nach allem, was er für
ihn getan hat?
„Lieber
Sohn“, würde der Vater sagen, „ich habe dir alles ermöglicht,
all das habe ich für dich getan und du sitzt dort drüben in Vietnam
auf einem Stein. Alle Türen standen dir offen, für alles war
gesorgt. Ich habe alles in deine Ausbildung gesteckt, habe dir alle
Möglichkeiten offen gehalten. Habe ich dich jemals zu etwas
gezwungen? Du bist klug, du hast Potential, du kannst alles werden,
was du willst. Alles.“
Dann
kommt der Mann von dem Felsen herunter, mit einem riesigen Fisch
unter seinem Arm. Er watet durch die hüfthohe Strömung auf mich zu.
Er erkennt mich, er lächelt mit weißen Zähnen durch seinen dichten
Bart. Er läuft schneller, er steigt die Stufen aus dem Wasser, legt
den Fisch in den Sand, der Haken hängt ihm noch im Maul, seine
weißen Augen starren in den Himmel. Und dann umarmt er mich, ganz
lang und fest und sagt: „Papa, schön, dass du da bist.“
Wir
kochen den Fisch mit Zwiebeln und Kartoffeln. Die blonde Frau heißt
Anna und sie und Raphael verbringen viel Zeit miteinander. Im
Lagerfeuer leuchten ihre Augen wunderschön, sie könnten nussbraun
sein. Wir reden viel, obwohl ich nicht weiß, was ich sagen soll. Und
dann klingelt mein Handy, ich entschuldige mich für einen Moment,
denn ich sehe Petras Nummer auf dem Display. „Es wird nicht lange
dauern“, sage ich.
„Die
Mieteinheiten in der Köpenicker Straße machen wieder Probleme“,
sagt sie, „und außerdem müssen die Handwerker den Boiler
tauschen, auf dem Kostenvoranschlag stehen dreitausend Euro, das ist
doch unverschämt, nur wegen so einer verkalkten Leitung! Alles
Betrüger!“
Ich
lege auf und gehe zurück ans Feuer. Raphael hält Anna in seinem Arm
und streichelt ihre Schulter.
„Eine
Sache hab ich dir nie geglaubt“, sagt Raphael plötzlich aus der
Stille heraus, „obwohl mir deine Meinung immer wichtig war. Ich hab
dir nie geglaubt, dass dich das alles wirklich glücklich macht. Du
wolltest sicher immer nur das beste für alle, aber manchmal, da kam
es mir vor, als wäre das alles nur gespielt oder reine Spekulation.
Und manchmal dachte ich, du würdest am liebsten, dass ich deinen Weg
gehe und glücklich werde, nur damit du siehst, wie deine Spekulation
bestätigt wird. Ich liebe dich, aber manchmal warst du ein
Hochstapler.“
Die
Sonne ist schon untergegangen und der Fluss ist schwarz, nur das
Rauschen verrät, dass er noch da ist. Anna ist schon in seinen Armen
eingeschlafen und wir beobachten gemeinsam, wie die Glut zu Asche
wird. Ich denke an die Nummer des Taxifahrers in meinem Handy, aber
ich gehe jetzt nicht, sage ich mir immer wieder, ich gehe jetzt
nicht. Denn das wäre all die Mühen nicht wert.
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