Parasit

Lucy ist gerade nicht da, sonst würde ich sie mal nachsehen lassen. Einen Spiegel haben wir leider nicht. Wir hatten mal einen, aber den hat Lucy irgendwann einmal mitgenommen und nicht wiedergebracht. Ich halte mir ein Colaglas vor das Auge, aber es spiegelt nicht genug, als dass ich was erkennen könnte. Ich ziehe mir eine Hose und ein T-Shirt an und klopfe bei Sascha, der nebenan wohnt. Er macht mir die Tür auf, wie immer im Bademantel, weil er das Haus nicht oft verlässt und irgendwie von zu Hause arbeitet.
Hi Sascha, vielleicht habe ich irgendwie etwas angefasst und das war nicht in Ordnung oder so. Auf jeden Fall juckt mein Auge und mein Augenlid hängt irgendwie in der Ecke fest, es bewegt sich kaum, aber nur links, rechts ist es in Ordnung. Siehst du was?“
Er schüttelt den Kopf und knallt die Tür zu. Ich gehe wieder in meine Wohnung und schlage noch einmal mit meinem Handballen gegen die Wand aus Wut, weil er mir nicht helfen wollte.
Lass mich in Ruhe, du Scheißjunkie“, brüllt er zurück und trommelt noch heftiger gegen die Wand als ich. Er war mal netter, vor einiger Zeit, da kam er sogar ab und an vorbei und hat mit uns Sushi gegessen. Ich glaube zwar, er mochte Lucy lieber als mich, aber wir kamen auch gut miteinander aus. Ich wasche mir mit Wasser die Hände, weil wir leider keine Seife mehr haben und massiere nochmal mein Augenlid. Ich hatte mal ein Gerstenkorn, dass hat sich so ähnlich angefühlt, aber es war mehr auf dem Augapfel, so ein Gerstenkorn fühlt sich ja eher so an, als würde man ständig einen Krümel im Auge haben, so ist das jetzt nicht. Es hängt einfach irgendwie fest, als würde jemand es in meinem Kopf festhalten. Ich habe noch eine Idee und gehe runter, eine Etage tiefer zu der alten Frau, die kein deutsch spricht. Ich klopfe und sie macht auf. Es riecht immer nach Schimmel in ihrer Wohnung. „Entschuldigung, gnädige Frau“, ich weiß nicht, warum ich das so sage, „könnten sie vielleicht mal einen Blick auf mein Auge werfen, es fühlt sich an, als wäre da etwas nicht in Ordnung.“ Sie schüttelt den Kopf und will die Tür zu machen. Ich stemme meinen Arm dagegen. „Halt bitte, haben sie vielleicht etwas zum kühlen? Cold? Cool? Something to cool my eye?“ Sie drückt die Tür weiter zu und ich renne schnell wieder in meine Wohnung, als sie sich umdreht und etwas in einer fremden Sprache in ihre Wohnung ruft. Sie hat einen kräftigen Enkel, ein echter Pfundskerl. Ich warte noch kurz und horche ins Treppenhaus, da ist aber nichts. Vielleicht finde ich einen Spiegel, irgendwo auf der Straße. Wenn ich noch ein Handy hätte, könnte ich mich fotografieren oder in der Selfiecam angucken, aber das hat blöderweise Lucy letztens mitgenommen und nicht wiedergebracht. Und der Scheißkühlschrank, Mann, wenn der wenigstens noch da wäre, dann könnte ich mir eine kalte Flasche auf‘s Auge legen oder so. Ich kann auch nicht im ganzen Haus rumfragen, es ist auch schon ziemlich spät, das gibt nur wieder Ärger. Ich werfe mich auf die Couch und gucke mit dem rechten Auge fern, nur so lange bis Lucy wiederkommt, denke ich. Ab und an massiere ich mein Augenlid und es pulsiert ein bisschen irgendwie passend zum Flimmern des Fernsehers. Es läuft eine Doku über Orkane und Luftmassen, die sich in einer Grafik von oben nach unten verteilen oder so, es gibt auf jeden Fall schwerere und leichtere. Ich mache das nicht mehr, denke ich, nicht wenn es mir nicht gut geht, man muss auf sich acht geben. Seit es angefangen hat zu jucken, habe ich‘s nicht mehr gemacht, wirklich nicht. Die Pfeife liegt noch so da, wie Lucy sie hingelegt hat. Sie ist verkohlt und ein kleines Stück Glas ist am Ende des Röhrchens abgebrochen, aber das war ich nicht, sondern Lucy. Ich weiß gar nicht, wann sie wiederkommt, sie wollte nur kurz los, ich weiß gar nicht wohin. Vielleicht zu Robert, manchmal verabreden sie sich noch. „Ich habe wieder ein paar Mark abgestaubt“, sagt sie immer mit einem Lächeln im Gesicht, wenn sie wiederkommt, obwohl wir in Europa ja schon lange Euro haben. Eigentlich sagen wir beide immer „ein paar Mark abstauben“, das finden wir irgendwie witzig. „Wir machen so dies und das“, sagen wir auch manchmal oder „Wir halten uns irgendwie über Wasser“. Ich hoffe sie kommt bald wieder. Ich kann irgendwie nicht geradeaus gucken, es bewegt sich immer ein bisschen, das Augenlid, selbst wenn ich ganz stur starre. Vielleicht bilde ich mir das auch ein, ich weiß nicht. Und dieses Jucken? Kann man sich das einbilden? Als Kind war ich öfter bei meiner Oma im Garten und wenn ich einen Mückenstich hatte, und ich hatte oft Mückenstiche, hat sie immer einen Löffel über dem Herd heiß gemacht und auf den Stich gelegt. „Das hilft gegen das Jucken“, hat sie gesagt. Unser Herd funktioniert nicht, aber ein Feuerzeug sollte es auch tun. Ich erhitze den Löffel so, dass sich wenig Ruß bildet und fühle mit dem Finger, wie warm er ist, er sollte nicht zu heiß sein. Und dann lege ich ihn behutsam auf mein Augenlid. Aber genau in dem Moment, als ich den Löffel drauflege, flitzt der Druck und das Jucken in meinen Kopf, ganz tief hinter die Augen und dann meine Wange hinunter und jetzt versteckt es sich hinter meinem Zahn, dem linken Backenzahn ganz hinten, würde ich sagen. Da sitzt es jetzt irgendwie. Mein Auge ist noch ein bisschen warm, aber ich kann mein Lid wieder bewegen. Irgendwas ist da durch meinen Kopf gewandert. Ich ziehe mir meine Jacke und meine Schuhe an, Lucy kommt heute bestimmt nicht mehr, ich muss das irgendwie unter Kontrolle bringen, einen Arzt fragen im Krankenhaus oder so. Ich fahre mit der Tram bis ins Krankenhaus und frage ein paar Leute, die da rumlaufen, wo die Notaufnahme ist. Es ist schon spät, vielleicht halb eins? Ich habe keine Uhr dabei. Es sind viele Menschen dort, sie sitzen nebeneinander und jeder hält sich ein anderes Körperteil, manche bluten und manche weinen. Am Empfang sitzt eine sehr beschäftigte Frau, die mit zwei Hörern gleichzeitig telefoniert. „Hallo“, sage ich, „sie müssen mir helfen. Ich habe einen Notfall, ich hatte da was am Auge und jetzt ist es hinter meinem Zahn, dort versteckt es sich irgendwie.“
Sie guckt mich über ihre Brille hinweg an, mustert meinen Kapuzenpullover und meine Jeans, meinen alten Eastpack-Rucksack, in dem ich schnell noch einige Unterlagen mitgenommen habe, falls sie welche brauchen, ich weiß ja nicht, vielleicht gibt es da ein Schreiben oder so, das sie noch von mir brauchen, irgendeine Bestätigung oder so etwas.
Nehmen sie bitte kurz Platz“, sagt sie und telefoniert weiter. Ich setze mich neben einen jungen Mann in Motorradjacke, der irgendwie einen krummen Körper hat und sich kurze Zeit später unter Schmerzen auf einen anderen Platz setzt. Bald kommt eine andere Frau zu uns und stellt sich vor mich hin: „Bitte füllen sie das aus.“
Ich krame ein Schreiben aus meinem Rucksack, oder eine Bestätigung oder so und will es ihr geben, aber sie geht wieder. Ich schiebe das Schreiben wieder zurück in meinen Rucksack und fülle aus, was ich weiß. Sie kommt wieder, bevor ich fertig bin.
Sind sie so weit?“, sagt sie und nimmt mir das Klemmbrett aus der Hand.
Was ist mit der Frage dort?“, sie zeigt auf eine Frage, die ich nicht beantwortet habe.
Hören sie, ich will von Vornherein ganz ehrlich zu ihnen sein.“, sagt sie, „Sie kriegen hier weder Rezepte noch irgendwelche Medikamente. Falls sie wirklich Beschwerden haben, müssen sie umgehend ehrlich auf diese Frage antworten.“
Ok.“, sage ich.
Und? Welche und wieviel?“
Ich sage ihr, was ich weiß und auch, dass ich das nicht mehr mache.
Sie nickt und geht wieder in eines der Behandlungszimmer. Irgendwann ruft sie den Mann in der Motorradjacke auf. Und dann die Frau mit dem verbundenen Fuß. Und dann den Jungen mit der gebrochenen Nase. Ab und an werden am Kopf blutende Menschen an mir vorbeigetragen. Manchmal schreit jemand und will gehen, aber die Krankenhausmitarbeiter halten ihn fest. Einer rennt bis zur Tür und verliert seinen Schuh. Als er sich bückt um ihn aufzuheben, klappt seine Haut von seinem Kopf in sein Gesicht und er kann nichts mehr sehen. Aber ich sitze immer noch auf meinem Platz, wie die Frau gesagt hat. Die Sonne geht langsam auf, mein Zahn juckt und manchmal fühlt es sich an, als würde er sich langsam aus dem Zahnfleisch lösen. Ich will meine Zähne nicht verlieren. Mittlerweile ist niemand mehr im Raum, der am Anfang da war. Alle wurden verbunden und sind nach Hause gegangen oder wurden auf Betten an mir vorbei auf Zimmer gefahren. Wenn ich noch weiter hier sitze, bis die Sonne wieder untergeht, habe ich vielleicht gar keine Zähne mehr, denke ich. Vielleicht fallen sie mir alle aus, weil das Ding von innen dagegen drückt. Dann spucke ich nach und nach alle meine Zähne aus und dann können die Ärzte mir hier auch nicht mehr helfen.
Ich gehe noch einmal zu der Frau am Empfang, aber sie ist weg. Dort sitzt jetzt eine andere Frau und drückt irgendwelche Tasten an ihrem Computer. „Hallo, ich will nicht unhöflich sein, gnädige Frau, aber ich warte wirklich schon lange und ich habe Angst, dass mir die Zähne ausfallen, das fühlt sich wirklich nicht richtig an, irgendetwas ist da in meinem Kopf. Es kitzelt.“
Ich weiß schon Bescheid über ihren Fall, machen sie sich keine Sorgen. Ihnen fehlt nichts. Nehmen sie noch kurz Platz, bald wird sich jemand um sie kümmern.“
Aber ich glaube wirklich, mir läuft die Zeit davon.“
Es wird alles gut, machen sie sich nicht verrückt. Wenn sie Hufschläge hören, sollten sie Pferde vermuten, nicht Zebras, sagt man bei uns. Und jetzt setzen sie sich bitte, sie halten uns von unserer Arbeit ab.“
Das führt zu nichts, ich gehe nach Hause und lege mich auf die Couch. Wann wird Lucy kommen? Sie könnte mir sicher helfen, sie hat immer einen guten Rat parat. Mit der Zunge überprüfe ich meinen Zahn, ich stoße leicht dagegen und etwas Hartes fällt mir in den Rachen. Ich muss würgen und spucke vor mir auf den Boden. In einer kleinen wässrigen Pfütze liegt er, der Zahn, einfach auf dem Boden. Und dann zuckt es wieder in der Wange, diesmal meinen Hals entlang, bis in meine Brust. Es wandert weiter, listiges Ding. Ich denke an Zebras, nicht an Pferde.

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